Was fällt Ihnen ein...

...mich zu duzen!

Üblicherweise würde es mir nicht im Traume einfallen, meine Leser zu duzen. Andererseits...
...andererseits gibt es ein Medium, das sich "electronic Mail" nennt. Lange, bevor ich etwas vom Internet wußte, war ich Teilnehmer dieser Kommunikationskultur namens Fidonet. Das war so ungefähr 1984. Ein Schneider CPC 464 und ein 300-Baud-Akustikkoppler verbanden mich mit "der Welt", die damals vor allem aus dem BBS "Comsys MMB Iserlohn" bestand.

Alle, die es schafften, die Geräte dazu zu bringen, tatsächlich miteinander in Verbindung zu treten, waren eine ziemlich kleine Gemeinschaft. Uns wäre es nie im Traume eingefallen, uns nicht zu duzen. Allerdings galten wir schon als etwas sonderbar. Wieso tippt man sich Nachrichten, wo man doch auch miteinander telefonieren oder sich Briefe schreiben könnte! Wieso Filetransfer, wenn man doch auch eine 5,25"-Floppy (160 KByte) in einen stabilen Briefumschlag stecken könnte! Wieso überhaupt Computer!

Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1997. E-Mail ist eine Selbstverständlichkeit geworden, 5,25"-Laufwerke gibt es nicht einmal mehr auf dem Flohmarkt und E-Mail wird von jedem Goldkettchenträger mit Handy und Set-Top-Box mißbraucht. Im Internet wuchs etwas, was wir zuerst alle verlachten (klicki-klicki-bunti-bunti) zu etwas heran, was mittlerweile 91,37% aller Internet-Anwender für "das Internet" halten: das WWW.

Das WWW ist der faszinierendste, aber gleichzeitig auch der traurigste Teil des Internets. Faszinierend, weil eine globale vernetzte Wissensbasis geschaffen wird. Die gesamte Menschheit vereinigt ihr Wissen, ihre Kommunikationsmöglichkeiten, ihre Intelligenz zu einem weltumspannendenden, weltvereinenden Medium. Alles ist erhältlich, alles kann gesagt werden, alles ist erlaubt. Eine weltweite, friedliche, intelligente Anarchie. Ein nie für möglich gehaltener Traum. Aber das WWW ist auch der traurigste Teil des Internets. Zum ersten Mal in der Geschichte elektronischer Netze entdeckte der Kommerz die Möglichkeiten, die sich bieten, wenn alle Menschen, die Geld genug für einen Computer haben, direkt erreicht werden können. Ungeheure Märkte eröffnen sich allen, die geschickt genug sind, denen, die sich einen Pentium 150 ins Wohnzimmer stellen, um damit SimCity 2000, AOL-Browser, Wing Commander, T-Online, Doom, Quake oder Larry 7 spielen zu können, das Geld aus der Kreditkarte ziehen zu können.

Wer Geld will, muß seine Kunden umwerben. Wer jemanden umwerben will, muß ihn ernstnehmen, Wer jemanden ernstnimmt, muß ihn siezen. Sagt man. Tut man. Isso. "Besuchen Sie unsere Web-Site!" "Klicken Sie hier!" "Ihre Kontonummer!" "Ihre E-Mail-Adresse, damit wir Ihnen die neuesten Angebote diskret zukommen lassen können!". Dreizehn Jahre lang habe ich alle geduzt, mit denen ich per E-Mail kommuniziert habe. Nun soll plötzlich eine Geschäftsbriefkultur aufkommen, die mich dazu bringen will, meine Mitmenschen als Kunden ansehen zu müssen? Nee! Nicht mit mir. Los, klicken Sie diesen Text von Ihrem Schirm! Verschwinden Sie! Bitte! Lies weiter! Im Netz duzen wir uns! Isso.

1997-02-14 mv

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